6. Wie sieht es eigentlich heute mit dem Antisemitismus aus?
Eines der zentralen Elemente des Nationalsozialismus war der Antisemitismus. Antisemitismus bezeichnet die Feindschaft gegenüber Juden. Diese wird durch Einstellungen oder Verhaltensweisen wie Ausgrenzung, Abwertung, Diskriminierung, Unterdrückung, Verfolgung, Vertreibung bis hin zur Vernichtung sichtbar. Antisemitismus gibt es schon seit der Antike und ist auch heute nicht verschwunden.
Im Folgenden findest du Teile aus einem Vortrag, den Abraham Schijveschuurder im Dezember 2019 an der Gemeinschaftsschule in Schmelz gehalten hat. Herr Schijveschuurder wurde 1950 in Holland geboren und lebt heute in der Schweiz. Seine Mutter Klemma Sara stammt ursprünglich aus Schmelz. Da sie als Jüdin im Nationalsozialismus verfolgt wurde, floh sie 1939 nach Holland, wo sie das „Dritte Reich“ überlebte. Ihre Eltern, Herrn Schijveschuurders Großeltern, wurden deportiert und ermordet.
Abraham Schijveschuurder berichtet in seinem Vortrag auch von antisemitischen Vorfällen, die er in seinem Leben erfahren musste:
Ich will dieses Treffen dazu nutzen, um über Antisemitismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Hass mit euch zu sprechen. (…)
2004 waren meine Frau und ich geschäftlich in Berlin unterwegs. Ich ging, wie für mich üblich – in der Schweiz – mit meiner Kippa auf dem Kopf. Aber da sagten mir doch unsere Gastgeber, dass ich das in Deutschland nicht tun kann! Ich war baff, sehe aber tatsächlich, dass dies zu Problemen und Konflikten führt.
Ich möchte mal festhalten: Es gibt kein Land auf der Welt, wo das Töten von Menschen erlaubt ist. Es steht zwar in der Bibel: «Du darfst nicht töten», aber das scheint nicht jeden zu interessieren. Woher stammt dieser Hass auf religiöse Menschen, sie zu töten, und woher kommt diese Judenfeindlichkeit und Fremdenfeindlichkeit? Und eine wichtigere Frage: Was können wir daran tun, diesen Hass zu unterbinden?
Am 9. November 2018 – 80 Jahren nach der Reichspogromnacht – sagte Frau Bundeskanzlerin Merkel in einer Rede u.a.:
«Wenn wir heute – 80 Jahre nach den Novemberpogromen und fast 70 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland – die Lage betrachten, dann bietet sich uns ein zwiespältiges Bild. Es gibt in Deutschland wieder blühendes jüdisches Leben – ein unerwartetes Geschenk nach dem Zivilisationsbruch der 2. Weltkrieg. Doch zugleich erleben wir einen besorgniserregenden Antisemitismus, der jüdisches Leben in unserem Land bedroht. Dieser Antisemitismus entlädt sich zunehmend offen in einer teils ungehemmten Hetze im Internet wie auch ganz allgemein im öffentlichen Raum.
Leider haben wir uns beinahe schon daran gewöhnt, dass jede jüdische Einrichtung von der Polizei bewacht oder besonders geschützt werden muss – Synagoge, Schule, Kindergarten, Restaurant, Friedhof.»
Es kann doch nicht so sein, dass jüdischen Kinder den Kindergarten nur durch Schleusen betreten können? Was können wir dazu beitragen, dass dieser Terror aufhört?
Darf ich euch mal fragen: Habt ihr euch das schonmal überlegt, wie ein jüdisches Kind in den Kindergarten geht? Wie ein jüdisches Kind in eurem Alter lebt?
(…) Antisemitismus ist nicht wiedergekehrt, er war nie weg! Er ist sogar wieder fast salonfähig geworden.
Ich erzähle euch mal eine kurze Geschichte, die mir persönlich widerfahren ist. Vor vielen Jahren hatten wir ein kleines Familienfest und ich hatte dazu einen Saal gemietet. Distanz vom Saal zu meiner Wohnung, etwa 300 Meter. Wir waren alle schon im Saal, als ich realisierte, dass ich zu Hause etwas vergessen hatte. Ich ging also schnell nach Hause. Dort angekommen sah ich, wie vor meinen Augen ein älterer Herr vor dem Haus zusammenbrach. Ich half ihm auf die Beine und setzte ihn auf eine Mauer. Ich fragte ihn, ob ich etwas Wasser bringen soll. Das tat ich dann und nachdem er getrunken hatte, sah ich, wie es ihm wieder besser ging. Ich entschied mich – trotz wartender Gäste – noch kurz bei ihm zu bleiben. Wie immer in Zürich hatte ich mein Käppchen an und da schaut mich der Herr an und sagt: «Sie, ich wusste nicht, dass Juden so freundlich sein können.» Das hat mir dann die Sprache verschlagen.
Mit dieser wahren Geschichte möchte ich eigentlich sagen, dass dieser Herr falsch erzogen wurde, er hat eine verkehrte Einstellung, gelernt zu glauben, dass Juden Monster sind und Hörner haben. Er war voreingenommen, war überzeugt, dass Juden schlechte Menschen sind und nun plötzlich realisierte er, was er Falsches gelernt hatte und so änderte sich seine Weltanschauung zum Positiven.
Sollen wir nicht immer alle gut über andere Menschen denken, Jude oder was auch sonst?
(…) Ich glaube (…), dass Veranstaltungen, welche wir jetzt haben, mit eurer Generation – der nächsten Generation – wichtig sind. Ihr seid zwischen 14 und 18 Jahre alt, das ist das Alter zur Vorbereitung auf das Erwachsenwerden. Ihr seid momentan zwischen Kind und Erwachsenem. Das ist nicht immer einfach. Manchmal wird man noch als Kind behandelt und manchmal erwartet man von euch eine erwachsene Haltung. Das heißt auch, dass man anfängt, Meinungen zu haben. Das kann z.B. in der Mode sein – heute ist es modern, kaputte Hosen zu tragen, damit bist du ‘in’ – da muss man mitmachen! Anderseits stört das viele und die sagen: Schade um die Hosen. Damit ist die Sache dann erledigt.
Aber, es gibt Situationen, wo man erst nachdenken muss oder gar soll, bevor man sich einer Gruppe anschliesst und mitmacht. Also bitte immer: erst Gehirn einschalten!
Noch ein Vorfall, der mir tatsächlich vor vielen Jahren passierte. Wir wohnten mit unseren jungen Kindern (damals 4-10 Jahre alt) in einem Mehrfamilienhaus im 4. Stock. Im 2. Stock wohnte auch eine junge Familie mit einem Kind – 8 Jahre alt. Mein 10-jähriger Sohn war mit seinem Fahrrad auf dem Parkplatz vor dem Haus am Spielen. Er kam herauf und erzählte, der Jungen vom 2. Stock ruft ständig: «Heil Hitler.»
Darauf bin ich zu den Nachbarn in den 2. Stock gegangen, klingelte an der Tür. Der Junge öffnete und ich fragte ihn nach seinen Eltern. Als diese kamen, erzählte ich, was passiert war und fügte hinzu: «Wie kann ein 8-Jähriger das überhaupt denken? Von wem hat er das? Irgendjemand muss ihm das vorgesagt haben.»
Am 4. November 2019 war folgender Artikel bei ‘Spiegel Online’ zu lesen, ich zitiere:
«Eine Schule aus dem hessischen Grünberg hat drei Schüler angezeigt. Auf der Rückfahrt von einem Besuch im ehemaligen Konzentrationslager Buchenwald sollen sie im Reisebus antisemitische Lieder abgespielt und den Text mitgesungen haben.
Es werde wegen des Verdachts der Volksverhetzung gegen die 14-Jährigen ermittelt, sagte ein Polizeisprecher in Gießen am Montag.» (…)
Als ich das gelesen habe, dachte ich: Bringt es was, wenn ich nach Schmelz gehe?
Darüber habe ich lange nachgedacht. Meine Antwort ist: ja, es ist richtig und wichtig. Nur auf diese Art und Weise kann ich euch deutlich erklären, dass Antisemitismus kein Phänomen der Geschichte ist. Es sind immer wieder einzelne Personen, welche aus Langeweile randalieren und Unruhe stiften wollen.
Warum tun Menschen das? Müssen Juden wirklich in Angst leben? Woher kommt das? Haben wir nichts aus der Geschichte der Menschheit gelernt? Warum mussten das meine Vorfahren ertragen? Wollen wir nicht alle einfach leben? In Frieden? Was treibt Menschen – auch heute noch – zu solchen Taten? Wäre es nicht schöner, wenn es anders wäre?
Ich wünsche mir, dass sich diese Fragen künftig mehr Menschen bewusster stellen.